Aktueller BGH Beschluss zur Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen

In einem Beschluss vom 5. April 2022 (3 StR 16/22) hat der BGH (3. Strafsenat) eine leider durchaus wegweisende Entscheidung zur Frage der Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO getroffen. Danach soll eine Bestellung nicht dadurch begründet sein, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO vorliegt.

Die Pflicht zur Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt im Vorverfahren ist dadurch deutlich begrenzt worden.

Hintergrund der Entscheidung

Die Revision des Angeklagten richtete sich gegen die Verurteilung des OLG Düsseldorfs vom 26. August 2021 (III- 6 StS 5/20 2 StE 10/20-7). Das Oberlandesgericht hatte den Angeklagten wegen Beihilfe zum Kriegsverbrechen gegen eine Person durch Tötung in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord und mit Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt.

Er war zu Beginn des Verfahrens mehrfach als Beschuldigter vernommen worden, wobei bei zwei Vernehmungen eine Belehrung darüber stattgefunden haben soll, dass im Fall der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger bestellt werden könne. An zwei Vernehmungstagen äußerte der Beschuldigte sich sodann in Anwesenheit eines Dolmetschers, aber ohne Beiziehung eines Verteidigers.

Mit der Revision rügte der Angeklagte unter anderem, dass ihm in den Vernehmungen als Beschuldigter unabhängig von einem eigenen Antrag kein Pflichtverteidiger nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO beigeordnet worden war.

Regelung des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO

Der § 141 Abs. 2 StPO ist in der jetzigen Fassung durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128) in die StPO eingeführt worden. Die Einführung sollte der Umsetzung der EU-Prozesskostenhilferichtlinie (EU-Richtlinie 2016/1919 über Prozesskostenhilfe, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32016L1919&from=SK) dienen, allerdings war die gesetzliche Regelungen bereits im Jahr 2019 im Rahmen der Anhörung im Bundestag durch verschiedene Praktiker kritisiert worden. Insbesondere die darin vorgesehene Antragspflicht wurde als unzureichend kritisiert (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw43-pa-recht-verteidigungen-660518). Darin liege ein Bruch mit dem bis dato geltenden System der §§ 140 ff. StPO.

Trotz dieser Kritik wurde das Antragserfordernis – nach Belehrung – im § 141 Abs. 1 StPO beibehalten. Lediglich Absatz 2 sieht eine Beiordnung von Amts wegen vor, sofern die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorliegen und im Fall des Nummer 3

„im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insbesondere bei einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung mit ihm, nicht selbst verteidigen kann“.

(§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO)

Dadurch solle – unabhängig vom Antrag – im Fall der Schutzbedürftigkeit die Verteidigung des Beschuldigten gesichert sein. In der Begründung des Gesetzestextes heißt es dazu:

„Liegt aber ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, so ist weitere Voraussetzung für eine Pflicht zur amtswegigen Bestellung, dass die Umstände des Einzelfalles die Mitwirkung des Verteidigers in diesem Stadium erforderlich machen; dazu zählt vor allem – mit Blick auf Artikel 9 der PKH-Richtlinie – die Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten. Hat dieser trotz der Möglichkeit, einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu stellen, hiervon nach Belehrung keinen Gebrauch gemacht, ist ihm – ggf. sogar gegen seinen Willen – auch schon in diesem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn er etwa auf Grund mangelnder Übersicht die Tragweite der Nichtausübung seines Antragsrechts nicht zu erkennen vermag.“

(BT-Drs. 364/19, S. 36, https://dserver.bundestag.de/brd/2019/0364-19.pdf)

Entscheidung und Begründung des BGH

In seinem aktuellen Beschluss (http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&az=3%20StR%2016/22&nr=129671) hat der BGH nun – entgegen aller kritischen Stimmen – festgestellt, dass ein Pflichtverteidiger im Vorverfahren von Amts wegen nur unter den engen Bestimmungen des § 141 Abs. 2 Nr. 3 StPO bestellt werden muss. Weder „systematische noch richtlinienbezogene oder verfassungsrechtliche Erwägungen“ würden eine anderweitige Auslegung geboten erscheinen lassen.

So müsse auch im Fall der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger nicht „ohne Weiteres sofort bestellt“ werden. Dies ergebe sich aus der Gesetzesbegründung und entspreche auch den Vorgaben der EU-Prozesskostenhilferichtlinie (Rn. 9 ff.).

Für die Bestellung von Amts wegen sei – so die Richter am BGH – nur im Fall einer individuellen Schutzbedürftigkeit Raum (Rn. 15). Eine Schutzbedürftigkeit solle insbesondere vorliegen, wenn Beschuldigte sich „infolge ihres geistigen Zustandes“ „nicht selbst verteidigen können“ (Rn. 16). Es sei eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, wobei „fehlende Sprachkenntnisse“ nicht für sich genommen eine Notwendigkeit begründen würden. Nach Ansicht des BGH können fehlende Sprachkenntnisse durch die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers ausgeglichen werden (Rn. 18).

Schließlich würde sich aber selbst aus der rechtswidrig unterbliebenen Bestellung von Amts wegen keine Unverwertbarkeit der Ergebnisse einer Vernehmung ergeben (Rn. 20). Es bliebe bei der Anwendbarkeit der allgemeinen Grundsätze, wonach ein Beweisverwertungsverbot „insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen geboten sein, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind“ (Rn. 21).

Nach alldem sahen die Richter am BGH die unterlassene Bestellung im vorliegenden Fall nicht als fehlerhaft an. So sollen weder die Schwere des Vorwurfs (hier unter anderem der Vorwurf der Beihilfe zum Mord), die fehlenden Sprachkenntnisse oder die Beweisschwierigkeiten in der Gesamtschau die Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO begründen. So seien keine kognitiven oder sonstigen Einschränkungen beim erwachsenen Angeklagten ersichtlich, vielmehr habe er in Syrien ein Gymnasium besucht, lerne seit 2014 (also zum Zeitpunkt der Vernehmung seit etwa 5 Jahren) Deutsch und absolviere eine Weiterbildung als IT-Netzwerktechniker (Rn. 20, 21).

Die Revision wurde insoweit verworfen.

Einordnung und Bewertung des BGH-Beschlusses

Der BGH hat mit seinem Beschluss die Voraussetzungen der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen im Vorverfahren nahezu unerreichbar hoch angesetzt. Damit können Beschuldigte in der absoluten Ausnahmesituation der ersten Vernehmungen im Vorverfahren selbst bei schwersten Vorwürfen den Befragungen der Ermittlungsbeamten ohne anwaltlichen Beistand ausgesetzt sein. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens lässt der BGH vermissen.

Die Bestellung von Amts wegen scheint danach nur bei erheblichen kognitiven Einschränkungen in Betracht zu kommen.

Dabei übersieht das Gericht vollständig, in welcher Situation der Beschuldigte sich gerade zu Anfang des Verfahrens befindet. Aus unterschiedlichen Gründen kann der Verweis auf eine Antragsstellung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers keine Beachtung finden – etwa, weil die Kostenfrage im Raum steht oder der Eindruck entstünde, sich damit bereits zu belasten.

Das gilt umso mehr (und unabhängig vom Bildungsgrad) für Menschen, die mit der deutschen Sprache und noch viel mehr dem deutschen Rechtssystem nicht oder nur unzureichend vertraut sind. Das Gefälle zwischen den Vernehmungspersonen und dem Beschuldigten ist nahezu evident. Wie in einer solchen Situation ein faires Verfahren abgesichert sein soll, ist schlicht nicht ersichtlich.

Hinzukommt, dass gerade die ersten Aussagen in einem Strafverfahren von besonderer Relevanz sind. Ohne Kenntnis des Akteninhalts ist es einer beschuldigten Person aber unmöglich, die erhobenen Tatvorwürfe und die bereits gesammelten Beweise einzuschätzen. Eine Aussage in diesem frühen Stadium prägt regelmäßig den gesamten Verlauf des weiteren Verfahrens.

Die Anwälte und Anwältinnen von H2W Strafrecht stehen Ihnen in jeder Lage des Strafverfahrens zu Verfügung. Machen Sie in jedem Fall von Ihrem Recht zu Schweigen Gebrauch und suchen Sie sich anwaltlichen Beistand. Wir helfen Ihnen gern: https://h2w-strafrecht.de/de/anwaelte-anwaeltinnen/.