Besprechung zum BGH-Beschluss vom 11. Mai 2021 – 4 StR 350/20
Nach einem Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) liegt keine Untreue (§ 266 StGB) bei betrügerischer Verschreibung häuslicher Krankenpflege durch einen Vertragsarzt vor. Es fehlt dabei an der Vermögensbetreuungspflicht im Rahmen des Tatbestandes der Untreue.
Der Fall nach den Feststellungen des Landgerichts
Der Angeklagte ist Facharzt für Allgemeinmedizin mit kassenärztlicher Zulassung. Dessen Ehefrau betrieb nach dem Verlust ihrer Approbation als Ärztin einen Pflegedienst. Sie verfolgte die Absicht, für einige ihrer ehemaligen gesetzlich krankenversicherten Patienten auf Grundlage einer ärztlichen Verordnung Anträge auf häusliche Krankenpflege zu stellen und anzugeben, dass die Patienten bestimmte Behandlungsmaßnahmen nicht selbst vornehmen könnten. Dadurch spiegelte sie vor, dass die Patienten der häuslichen Krankenpflege bedürften. Die jeweiligen Patienten schlossen mit dem Pflegedienst Versorgungsverträge ab, um die jeweiligen Pflegeleistungen gegenüber den jeweiligen Krankenkassen abzurechnen.
Der angeklagte Facharzt stellte zu diesem Zweck in 16 Fällen für fünf Patienten die Verordnungen für häusliche Krankenpflege aus. Dabei gab er wahrheitswidrig an, dass die verordneten Pflegemaßnahmen erforderlich gewesen seien. Er nahm damit zumindest billigend in Kauf, dass bei den Patienten die Voraussetzungen für eine häusliche Krankenpflege nicht vorlagen, da sie in Wirklichkeit keiner externen Unterstützung bedurften. Durch die ausgestellten Verordnungen des angeklagten Facharztes wurden die Anträge zur Leistungsübernahme bei den Krankenkassen gestellt, wodurch es zur Auszahlung von Seiten der Krankenkassen kam.
Der Beschluss des BGH und die Abgrenzung zur bisherigen Rechtsprechung
Der BGH hob die vorherige Verurteilung durch das Landgericht Bochum wegen Untreue gemäß § 266 StGB mit der Begründung auf, dass einem Vertragsarzt bei der Verordnung der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Absatz 2 SGB V (Behandlungssicherungspflege) gegenüber den geschädigten Krankenkassen keine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Absatz 1 StGB obliege.
Eine für die Erfüllung des Straftatbestandes der Untreue nach § 266 Absatz 1 StGB notwendige Vermögensbetreuungspflicht setzt nach ständiger Rechtsprechung des BGH eine Rechtsbeziehung vertraglicher oder gesetzlicher Art voraus, bei denen die Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen inhaltlich besonders herausgehoben ist und über die allgemeine Pflicht hinausgeht, auf die Vermögensinteressen von Vertragspartnern oder anderen Personen Rücksicht zu nehmen, auf deren materielle Güter eine tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit besteht. Damit muss die Pflicht zur Vermögensbetreuung eine sogenannte Hauptpflicht darstellen (dazu auch ausführlich BGH, Urteil vom 24.11.2020 – 5 StR 553/19).
Unter Anwendung dieses Grundsatzes folgert der BGH, dass im Rahmen des § 37 Absatz 2 SGB V die gesetzlichen Krankenkassen selber über noch weitergehende verfahrensrechtliche Kontrollmöglichkeiten verfügten. Es liege deshalb nicht allein in der Hand des verordnenden Arztes, ob es zu einer Leistungserbringung auf Kosten der Kassen komme. Der Leistungsfall trete bei der häuslichen Krankenpflege in formaler Hinsicht erst dann ein, wenn vor Leistungsbeginn eine Bewilligungsentscheidung der zuständigen gesetzlichen Krankenkasse ergehe. Dies ist in dem vorliegenden Fall geschehen.
Eine besondere Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen – und damit die Annahme einer Vermögensbetreuungspflicht – scheidet somit im Ergebnis aus.
Obwohl der BGH eine Strafbarkeit der Untreue in dem vorliegenden Fall ausschloss, bejahte er im Ergebnis beim Angeklagten die Strafbarkeit zur Beihilfe zum Betrug in 16 Fällen gemäß §§ 263 Absatz 1, 27 StGB durch die Ausstellung der Verordnungen und änderte damit den Schuldspruch entsprechend ab.
Das Wirtschaftlichkeitsgebot für Vertragsärzte
Der BGH nimmt eine Abgrenzung zu seiner bisherigen Rechtsprechung vor.
So entschied der BGH in der Vergangenheit, dass Vertragsärzten eine Betreuungspflicht für das Vermögen der gesetzlichen Krankenkassen in Fällen der Verordnung von Heilmitteln nach § 15 Absatz 1 Satz 2 SGB V zukomme (BGH, Beschluss vom 16.08.2016 – 4 StR 163/16). In solchen Fällen konkretisiere der Vertragsarzt bei der auszustellenden Verordnung in eigener Verantwortung den gesetzlichen Leistungsanspruch (aus § 2 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 Satz 1 SGB V) auf Sachleistungen gegen die Krankenkasse. Dabei stelle der Arzt verbindlich fest, dass die medizinischen Voraussetzungen für den Eintritt des Versicherungsfalls vorlägen und damit das beantrage Heilmittel sowohl notwendig wie auch wirtschaftlich sei.
Dabei betonte der BGH das sogenannte Wirtschaftlichkeitsgebot aus § 12 SGB V, woraus sich für den Vertragsarzt gegenüber den Krankenkassen eine besondere Verantwortung für deren Vermögen herleiten lässt.
In der Folge wurde durch den BGH eine Vermögensbetreuungspflicht ebenfalls bei der Verordnung von Sprechstundenbedarf durch den Vertragsarzt bejaht, wonach es dem verordnenden Arzt obliege, die Krankenkasse zu entsprechenden Zahlungen zu verpflichten. Eine weitergehende Kontrollmöglichkeit steht der Krankenkasse in einem solchen Fall dann nicht zur Verfügung (BGH, Beschl. v. 25.7.2017 – 5 StR 46/17). Dieses Verfahren beinhaltete unter anderem den Sachverhalt, dass ein Arzt Sprechstundenbedarfsverordnungen für Kontrastmittel mit falschen Verbrauchsangaben gegenüber den Krankenkassen ausgestellt und abgerechnet hat.
Rechtliche Folgen für die medizinische Praxis
Durch den Beschluss setzt der BGH seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Vermögensbetreuungspflicht bei Vertragsärzten fort und konkretisiert die Voraussetzungen für den Untreuetatbestand. Dabei wird nun zumindest in Teilen die weitreichende Annahme der Vermögensbetreuungspflicht für Vertragsärzte eingegrenzt. Dies kann in jedem Einzelfall unterschiedliche (straf-) rechtliche Auswirkungen für die vertragsärztliche Praxis haben.
Auch wenn im Einzelfall eine Verurteilung wegen Untreue gemäß § 266 StGB ausscheidet, können dennoch weitere Delikte – insbesondere der Betrug gemäß § 263 StGB – verwirklicht sein.
Die Notwendigkeit zur Beachtung der juristischen Feinheiten ist für eine erfolgreiche Strafverteidigung von Beginn des Ermittlungsverfahrens an essentiell.
Die Verteidigung muss in solchen Fällen neben den strafrechtlichen Konsequenzen auch mögliche berufsrechtliche Folgen – den drohenden Entzug der Approbation – für die Ärztin und den Arzt im Blick haben.
Bei Pflegediensten ist zudem an eine drohende Entziehung der Zulassung zu denken und es sind mögliche Rückzahlungsansprüche von Seiten der Versicherungen zu beachten.
Rechtsanwalt Dr. Philipp Horrer und Rechtsanwältin Marina Graichen von H2W Strafrecht beraten Sie gern umfassend zu allen strafrechtlichen Fragen im Bereich des Arzt- und Medizinstrafrechts.